Montag, 24. Dezember 2007

24. Dezember (Tatsächlich: Zur Besinnung)

Blogs werden ja des Ö€“fteren als Plattformen zur Veröffentlichung von tagebuchähnlichen Einträgen verwendet. Nun bin ich zwar weit davon entfernt, Einträge über meine Toilettengänge und Mahlzeiten zu schreiben. Trotzdem hat mich überrascht, mit welcher Wucht mich der heutige Arztbesuch getroffen hat. In dem Sinne eines sich plözlich (ein wunderschönes Wort, wo ich es schreibe fällt mir auf, dass ich es schon lange nicht mehr verwendet habe), ja, im Sinne eines sich plötzlich erweiternden Bewusstseins darüber, wieviele Dinge mir das Leben ermöglicht.
Ich schreibe jetzt also ein paar Sätze aus der Ich-Perspektive. Ist es nicht unglaublich: Wenn mir etwas wehtut, dann laufe ich ein paar Meter und treffe auf eine entsprechende Praxis, in der mir geholfen wird. Kann ich nicht laufen, setze ich mich in einen Bus oder in die Bahn. Will ich nicht laufen, auch. Habe ich Lust darauf, zu lesen, gehe ich in eine Bibliothek. Möchte ich reisen, steht es mir frei, fast alle Orte dieser Welt aufzusuchen. Ist mir der Sinn danach, nichts zu tun: So tue ich nichts.
Sicherlich, es gibt bei alledem diese und jene Einschränkungen: Befinde ich mich in einer ländlichen Gegend im Wald, kann ich wohl lange laufen, bis ich auf eine Arztpraxis treffe. In der tiefsten Nacht fährt vielleicht kein Bus; Lokführer können auch tagsüber streiken; ich muss mitunter Geld verdienen oder zumindest besitzen, um reisen und leben zu können. Aber viel davon braucht es nicht (Ermöglicht nicht gerade die Entwicklung der heutigen Welt so sehr wie noch nie, ganz Neues auszuprobieren, auch wenn man lange etwas ganz anderes gemacht hat, sich einer Sache zu widmen, die man für richtig hält, auch wenn sich die Interessen ändern?). Und sollten alle Stricke reisen, habe ich immer noch meine Freunde, meine Eltern, Geschwister, die zuhören und helfen können. Ich lebe in großem Luxus. Mir stehen unglaublich viele Möglichkeiten offen. Es ist wohl niemals ganz zu spät, wage ich allgemein zu sagen.
Und jetzt verlasse ich meine rein subjektive Perxpektive. Manchmal hilft es vielleicht, sich zu vergegenwärtigen, was man denn eigentlich alles hat. Wir tun es nur selten. Unsere Haut verlassen, das zumindest versuchen: Sich, mit seinen ganzen Gedanken zu sich, seinen Hoffnungen und Ö€žngsten. Das ist unermesslich wertvoll, weil es uns eröffnen kann, wie wertvoll unser Leben, das Leben jedes Einzelnen überhaupt ist. Damit streifen wir den Geruch des Egoismus ab, welcher möglicherweise zuerst einmal beim Lesen dessen entstand, was ich oben aus meiner Perspektive geschrieben habe.
Offen für anderes und andere zu sein ist uns erst möglich, wenn wir mit uns etwas anfangen, uns leiden und akzeptieren können. Uns sollten wir die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen, damit wir über uns hinausgehen können. Tolstoi hat dafür in seiner Erzählung “Herr und Knecht” ein beeindruckendes Bild gefunden.
Der Herr eines Hofes, Wassilij Andrejitsch, zieht zusammen mit seinem Knecht Nikita in schneestürmendes Nacht los, um den Kauf eines Waldstückes zu besiegeln. Der Schlitten wird von einem kräftigen Pferd namens Muchortyj gezogen. Nun erschwert der Schneesturm nicht nur das Vorankommen beträchtlich, sondern auch die Orientierung. Das Gespann gerät vom Weg ab, sie finden nicht mehr zurück. Von den Kräften verlassen, entschließen sie sich irgendwann, die Nacht inmitten dieses Sturmes zu verbringen. Der Herr bettet sich im Schlitten, der Knecht Nikita davor. Schnell verlässt Wassilij Andrejitsch jedoch die Geduld, er steigt auf das Pferd und reitet eigensüchtig und selbstgerecht los, seinen Knecht Nikita zurücklassend, ahnend, dass dieser sterben würde. Andrejitsch scheitert, der Schneesturm zwingt ihn, zurückzukehren. Völlig entkräftet lässt er sich auf Nikita nieder, der sich in den Schlitten gelegt hat und zu erfrieren droht. In diesem Moment erkennt der Herr nicht nur, dass es falsch war, sein Leben lang dem Geld nachzujagen, sondern auch, nur auf sich selbst zu schauen. Er öffnet seinen Mantel, von dem Wunsch beseelt, Nikita zu wärmen und am Leben zu halten. Nikita überlebt, sein Herr aber stirbt, seelig: “Nikita lebt, sagte er sich triumphierend, also lebe auch ich.” (67)
So endet mein kleiner Blog-Adventskalender. Mit dem Hinweis auf eine kurze Zeit zur Besinnung, zum Zurücktreten hinter das, was man tut, und betrachten, oder auch einmal zum ganz unangestrengt genießen. Auch in diesem Sinne, bis bald.

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