Blogs werden ja des Ö€“fteren als Plattformen zur Veröffentlichung
von tagebuchähnlichen Einträgen verwendet. Nun bin ich zwar weit davon
entfernt, Einträge über meine Toilettengänge und Mahlzeiten zu
schreiben. Trotzdem hat mich überrascht, mit welcher Wucht mich der
heutige Arztbesuch getroffen hat. In dem Sinne eines sich plözlich (ein
wunderschönes Wort, wo ich es schreibe fällt mir auf, dass ich es schon
lange nicht mehr verwendet habe), ja, im Sinne eines sich plötzlich
erweiternden Bewusstseins darüber, wieviele Dinge mir das Leben
ermöglicht.
Ich schreibe jetzt also ein paar Sätze aus der Ich-Perspektive. Ist
es nicht unglaublich: Wenn mir etwas wehtut, dann laufe ich ein paar
Meter und treffe auf eine entsprechende Praxis, in der mir geholfen
wird. Kann ich nicht laufen, setze ich mich in einen Bus oder in die
Bahn. Will ich nicht laufen, auch. Habe ich Lust darauf, zu lesen, gehe
ich in eine Bibliothek. Möchte ich reisen, steht es mir frei, fast alle
Orte dieser Welt aufzusuchen. Ist mir der Sinn danach, nichts zu tun: So
tue ich nichts.
Sicherlich, es gibt bei alledem diese und jene Einschränkungen: Befinde
ich mich in einer ländlichen Gegend im Wald, kann ich wohl lange laufen,
bis ich auf eine Arztpraxis treffe. In der tiefsten Nacht fährt
vielleicht kein Bus; Lokführer können auch tagsüber streiken; ich muss
mitunter Geld verdienen oder zumindest besitzen, um reisen und leben zu
können. Aber viel davon braucht es nicht (Ermöglicht nicht gerade die
Entwicklung der heutigen Welt so sehr wie noch nie, ganz Neues
auszuprobieren, auch wenn man lange etwas ganz anderes gemacht hat, sich
einer Sache zu widmen, die man für richtig hält, auch wenn sich die
Interessen ändern?). Und sollten alle Stricke reisen, habe ich immer
noch meine Freunde, meine Eltern, Geschwister, die zuhören und helfen
können. Ich lebe in großem Luxus. Mir stehen unglaublich viele
Möglichkeiten offen. Es ist wohl niemals ganz zu spät, wage ich
allgemein zu sagen.
Und jetzt verlasse ich meine rein subjektive Perxpektive. Manchmal
hilft es vielleicht, sich zu vergegenwärtigen, was man denn eigentlich
alles hat. Wir tun es nur selten. Unsere Haut verlassen, das zumindest
versuchen: Sich, mit seinen ganzen Gedanken zu sich, seinen Hoffnungen
und Ö€žngsten. Das ist unermesslich wertvoll, weil es uns eröffnen kann,
wie wertvoll unser Leben, das Leben jedes Einzelnen überhaupt ist.
Damit streifen wir den Geruch des Egoismus ab, welcher möglicherweise
zuerst einmal beim Lesen dessen entstand, was ich oben aus meiner
Perspektive geschrieben habe.
Offen für anderes und andere zu sein ist uns erst möglich, wenn wir mit
uns etwas anfangen, uns leiden und akzeptieren können. Uns sollten wir
die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen, damit wir über uns
hinausgehen können. Tolstoi hat dafür in seiner Erzählung “Herr und
Knecht” ein beeindruckendes Bild gefunden.
Der Herr eines Hofes, Wassilij Andrejitsch, zieht zusammen mit seinem
Knecht Nikita in schneestürmendes Nacht los, um den Kauf eines
Waldstückes zu besiegeln. Der Schlitten wird von einem kräftigen Pferd
namens Muchortyj gezogen. Nun erschwert der Schneesturm nicht nur das
Vorankommen beträchtlich, sondern auch die Orientierung. Das Gespann
gerät vom Weg ab, sie finden nicht mehr zurück. Von den Kräften
verlassen, entschließen sie sich irgendwann, die Nacht inmitten dieses
Sturmes zu verbringen. Der Herr bettet sich im Schlitten, der Knecht
Nikita davor. Schnell verlässt Wassilij Andrejitsch jedoch die Geduld,
er steigt auf das Pferd und reitet eigensüchtig und selbstgerecht los,
seinen Knecht Nikita zurücklassend, ahnend, dass dieser sterben würde.
Andrejitsch scheitert, der Schneesturm zwingt ihn, zurückzukehren.
Völlig entkräftet lässt er sich auf Nikita nieder, der sich in den
Schlitten gelegt hat und zu erfrieren droht. In diesem Moment erkennt
der Herr nicht nur, dass es falsch war, sein Leben lang dem Geld
nachzujagen, sondern auch, nur auf sich selbst zu schauen. Er öffnet
seinen Mantel, von dem Wunsch beseelt, Nikita zu wärmen und am Leben zu
halten. Nikita überlebt, sein Herr aber stirbt, seelig: “Nikita lebt,
sagte er sich triumphierend, also lebe auch ich.” (67)
So endet mein kleiner Blog-Adventskalender. Mit dem Hinweis auf eine
kurze Zeit zur Besinnung, zum Zurücktreten hinter das, was man tut, und
betrachten, oder auch einmal zum ganz unangestrengt genießen. Auch in
diesem Sinne, bis bald.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen