Dienstag, 2. April 2013

Wozu heute noch Religion?

Dass die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von Religion aller Unkenrufe zum Trotz noch Relevanz hat, ist nicht verwunderlich. Zum Einen hat sie gerade außerhalb Europas nach wie vor einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Zum Anderen verbindet die einzelnen Menschen selbst in Europa, wo sie einen ungleich schwereren Stand hat, eine lange kulturelle Tradition mit ihr.

Wie kaum eine andere Frage fordert die nach Relegion auch heute noch den Einzelnen auf, Farbe zu bekennen. Kritiker machen ihr den Vorwurf, sie wäre nur noch etwas für Leute, die psychisch oder physisch ermatten, ein Sammelbecken für all jene, die aufgrund von Lebensangst und Lebensenttäuschung schwach geworden seien. Wer genau hinschaue, erkenne in ihr ein Herrschaftsinstrument, das den Blick von den diessetigen Missständen hin in das Jenseits lenke - und damit das gegebene Herrschafts- und Machtgefüge zementiere. Vor dem Hintergrund der großen europäischen Tradition der Aufklärung würde eine Hinwendung zur Religion einem Rückfall in mittelalterliche Zustände nahekommen. Die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation habe schließlich deutlich gemacht, dass Religion nur als Lückenfüller fungiere, solange keine bessere Erklärung gefunden sei.

Die aufgeklärte Moderne, könnte man zusammenfassend sagen, geht nicht mit einer religiösen Haltung zusammen.

Treffen diese Thesen zu? Allein schon die folgende Vorstellung wäre dann eigentümlich: Dass so viele Menschen - in Europa, in den USA, in anderen modernen Zivilisationen - trotz ihrer aufgeklärten Lebensverhältnisse noch religiös sind. Hätten die Kritiker recht, würden sich diese Menschen allesamt entweder inkonstent verhalten oder von oben skizzierter existentieller Schwäche gezeichnet sein. Das jedoch wären gewagte Behauptungen. Gibt es keine bessere Erklärung?

Der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel ist in einem bemerkenswerten Vortrag zu interessanten Resultaten gelangt. Er weißt darauf hin, dass sich hinter der vehementen Verteidigung diesseitiger Maßstäbe ein starker Glaube verbirgt.

Und wo liegt der qualitative Unterschied zwischen dem Glauben an positivistisch-rationale Welterklärungen auf der einen Seite und einen metaphysischen Gott auf der anderen? Sind jene diesseitigen Ansätze nicht gerade im Angesicht der im 20. Jahrhundert begangenen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" an ihre Grenzen gestoßen? Tatsächlich wird in der Philosophie bis zum heutigen Tage nach einer nicht-religiösen Letztbegründung von Moral gesucht - sie wurde noch nicht gefunden. In der Religion hingegen wird diese kanonisch von einer übergeordneten Instanz festgelegt. Nicht zuletzt dieser Wertekanon ermöglichte es, den Tatbestand eben jener "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" erst zu konstituieren.

Karl-Josef Kuschel setzt nicht auf die Selbstlegitimation der Religion, und das verschafft ihm gerade auch bei Religionskritikern Gehör. Er bringt die Religion aus der Defensive, indem er sie dem Scheinwerferlicht rationaler Kritik aussetzt - und sie mithilfe von Argumenten überzeugen lässt. Ausgerechnet Max Horkheimer, ein Hauptvertreter der ausgesprochen religionskritischen Frankfurter Schule, hat ihm dabei geholfen, seinen Weg als überzeugter Christ weiterzugehen:

"Theologie bedeutet das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist, ich drücke mich bewusst vorsichtig aus, die Hoffnung, dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge, Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge."

Starke Worte, welche die Bedeutung von Religion gerade in der heutigen Zeit zu unterstreichen vermögen?